Psychiatrielandschaft Österreich 1784–1938


→ Zeitleiste: Psychiatrische Anstalten in der österreichisch-ungarischen Monarchie

→ Interaktive Karte der Monarchie


Psychiatrische Anstalten als eigenständige Einrichtungen zur Verwahrung, Versorgung, Pflege und Behandlung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen beherbergten – ausgelöst durch die Reformen Kaiser Josephs II. – am Ende des 19. Jahrhunderts rund 40 Prozent der nunmehr als PatientInnen wahrgenommenen "Irren". Diese Anstalten lösten die in der frühen Neuzeit disziplinarisch und zum Teil ökonomisch ausgerichteten "Arbeits-, Zucht- und Tollhäuser" ab. Aber erst die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eröffneten so genannten "Irrenanstalten" begannen sich aus humanitären und therapeutischen Überlegungen stärker als "Heilanstalten" zu begreifen und die Verwahrfunktion an Pflegeanstalten und Versorgungshäuser zu delegieren. Eine institutionelle Trennung von Heil- und Pflegefunktion konnte in den österreichischen Anstalten bis 1938 allerdings nur partiell umgesetzt werden.

Mit dem Gesetz vom 17. Februar 1864 wurde die Zuständigkeit der "Irrenversorgung" vom Staat auf die Länder und Kronländer übertragen, was eine Gründungswelle landeseigener Anstalten in Gang setzte. Allein zwischen 1865 und 1914 wurden 26 Landesanstalten und eine städtische Anstalt eröffnet. Die Zahl der aufgenommenen PatientInnen verzehnfachte sich in diesem Zeitraum. Entfiel noch 1852 durchschnittlich ein/e hospitalisierte/r Kranke/r auf 6855 Einwohnerinnen, so war dieses Verhältnis im Jahr 1911 nur mehr 1:989. Parallel zu diesen Spezialanstalten fanden Kranke in den zum Teil kleinen und permanent überfüllten Abteilungen der Spitäler und öffentlichen Krankenhäuser Aufnahme. Eine Vorreiterrolle nahmen diesbezüglich die Barmherzigen Brüder ein, die bereits seit 1656 im Spital in Görz psychisch Kranke aufnahmen. Die Bettenkapazität in den Krankenhausabteilungen konnte vor allem dort, wo keine "Landesirrenanstalten" bestanden, fallweise bis über 200 betragen. Neben den in der Regel groß dimensionierten Landesanstalten und den Abteilungen in Spitälern entstanden mit der Einführung der Psychiatrie als universitäres Teilfach der Medizin die Universitätskliniken für Psychiatrie (und Neurologie), die in der Folge das Wissens-, Deutungs- und Heilungsmonopol an sich ziehen konnten und als "Schleusen" (Ralser) der Verteilung der Kranken fungierten. Die Zahl der an den Fachabteilungen der Universitätskliniken aufgenommenen PatientInnen war aber vergleichsweise klein und die Aufenthaltsdauer derselben relativ kurz.

In baulicher Hinsicht wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus beschäftigungstherapeutischen Gründen das rigide System der geschlossenen Korridorbauten mit tiefen Krankenräumen und langen Gängen aufgegeben. Ab etwa 1880 setzte sich zunehmend das Konzept der Pavillonanlage für die Unterbringung der PatientInnen durch. Für vermögende PatientInnen entstanden vor allem in größeren Städten zumeist kleine und mondän ausgestattete Privatsanatorien, die zum Teil von Privatdozenten oder Universitätsprofessoren geleitet oder gegründet wurden. Auch in den Militärspitälern in Graz, Wien, Lemberg und Krakau wurden eigene psychiatrische Abteilungen eingerichtet, ebenso in den Strafanstalten Krakau und Lemberg.

1914 verfügte der österreichische Teil der Habsburgermonarchie für mehr als 28 Millionen EinwohnerInnen über 37 Landesanstalten, 4 städtische Anstalten, 18 Privatanstalten, 5 Universitätskliniken, 4 Abteilungen in Militärlazaretten, 2 psychiatrische Abteilungen in Strafanstalten und mehrere Abteilungen in öffentlichen Krankenhäusern. Trotz des massiven Ausbaus des hospitalen Versorgungs- und Behandlungsnetzes wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert noch fast die Hälfte der Menschen mit psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen in der Familie verpflegt. Infolge des Ersten Weltkriegs und der wirtschaftlichen Krisenzeit nach dem Krieg wurden einzelne öffentliche und private Anstalten teilweise aufgelöst oder umstrukturiert. 1937 setzte sich die Versorgungslandschaft der Republik Österreich für ca. 6 Millionen EinwohnerInnen aus folgenden Institutionen zusammen: 12 Landesheil-, Pflege- und Siechenanstalten, 3 städtischen Anstalten, 8 Privatanstalten, 3 Universitätskliniken und 2 Abteilungen in öffentlichen Krankenhäusern. E.D.-D./H.K.